“Gute Sachbücher erzählen Geschichten”

Der derzeit erfolgreichste deutschsprachige Wissenschaftsautor Stefan Klein im Interview mit dem Wiener Standard über Zeitmanagement, die Deutungshoheit der Geisteswissenschafter und warum selbst Wissenschafter Sachbücher brauchen, um einander zu verstehen. 

 

Sie schreiben, dass Zeitdruck und Termine nichts Schlechtes sind. Kann man sich austricksen, um nicht in Stress zu geraten?

 

Klein: Wenn ich ein Buch schreibe, sage ich mir nicht, am Tag X muss das Manuskript fertig sein, sondern ich setze mir Zwischenziele für jedes Kapitel. Häufig ist es sinnvoll, sich sehr kurzfristige Ziele wie das Schreiben eines Absatzes zu setzen, weil die Aufmerksamkeit in dermaßen kurzen Abschnitten funktioniert.

 

Ist es sinnvoll, sich zeitweise abzuschotten?

 

Klein: Selbstverständlich. Ich führe Interviews grundsätzlich um die Mittagszeit, weil ich weiß, dass ich da sonst nicht viel zustande bringe. Da kann man mit mir telefonieren. Am Vormittag kümmere ich mich lieber um Dinge, die sehr viel Konzentration erfordern. Unsere innere Uhr steuert in einem Maße, wie man sich das bis vor Kurzem nicht hätte träumen lassen, alle Vorgänge im Körper und im Gehirn. Der Unterschied zwischen dem Hochpunkt und dem Tiefpunkt der geistigen Konzentrationsfähigkeit ist etwa so groß wie zwischen Nüchternheit und wenn man drei Gläser Wein getrunken hat.

 

Gehen Wissenschafter anders mit Zeit um?

 

Klein: Sie sind weniger bereit, aus Zeitgründen Kompromisse an der Qualität der Arbeit zu machen. Man will 100- oder zumindest 98-prozentige Ergebnisse. In der Industrie hätte man sich längst mit 80 Prozent zufrieden zu geben. Experimentell arbeitende Naturwissenschafter stehen abends um zehn oft noch im Labor. Schön, wenn die Leute so in ihrem Beruf aufgehen, aber für ihr Privatleben ist das ein Problem. In Interviews mit Wissenschaftern habe ich oft erlebt, dass eigentlich viel beschäftigte Leute die Zeit vergessen, weil sie sich dermaßen für ihr Thema begeistern.

 

Wie viele Interviews haben Sie selbst seit dem Erscheinen Ihres Buch gegeben?

 

Klein: Ach Gott, viele, fünfzig, ich weiß es wirklich nicht. Bei der Buchmesse ging das im Halbstundentakt. Irgendwann sitzen Sie in einem Interview und wissen nicht mehr, für welches Medium es ist.

 

Stimmt es, dass man als Sachbuchautor von Journalisten mehr interviewt als gelesen wird?

 

Klein: Es gibt auch Kollegen, die das ganze Buch vor dem Interview gelesen haben. Wenn ein Autor so schreibt, muss er einigermaßen eloquent sein, also lässt man ihn die Sachen selber erklären. Dazu kommt, dass ein Interview häufig weniger Arbeit bedeutet. Die dialogische Form über Sachthemen hat aber auch eine lange Tradition, das finden Sie schon bei Platon.

 

Als Sie sich vor sieben Jahren aus dem Wissenschaftsjournalismus verabschiedet haben, nervte Sie das Springen von Thema zu Thema?

 

Klein: Mein Wechsel aus der Festanstellung war nicht so geplant. Wahrscheinlich spielte der Wunsch eine Rolle, mich intensiver mit einem Thema zu befassen. Ich komme ja aus der Forschung. Ich wollte schon immer mal ein Buch schreiben, und es ist über die Erwartungen gut gelaufen.

 

Wie viel Zeit investieren Sie gewöhnlich in ein Buch?

 

Klein: Mindestens zwei Jahre, in denen ich nichts anderes tue.

 

Damit sind Sie ziemlich allein unter den deutschsprachigen Autoren.

 

Klein: Das war eine bewusste Entscheidung. Dass das im deutschsprachigen Raum nicht so viele können, hat schlicht mit den ökonomischen Gegebenheiten zu tun. Wir haben zwar den drittgrößten Buchmarkt der Welt, aber den Luxus des aufwändigen Schreibens kann ich mir nur leisten, weil sich meine Bücher entsprechend verkaufen. Wenn Sie hier 50.000 verkaufen, steht Ihr Buch wochenlang auf der Bestsellerliste.

 

In den USA ist 50.000 eine gute Auflage, aber die ist auch ohne großes Marketing und mit einem randständigeren Thema erreichbar. Dazu kommt, dass Popularisierung bei uns scheeler angesehen wurde als in den USA oder England, wo sich Wissenschaft einfach mehr verkaufen muss. Unsere Medien sind sehr stark und viel stärker als im angloamerikanischen Raum von Leuten geprägt, die geisteswissenschaftlich denken, die also schon mal die Augenbrauen zusammenziehen, wenn ein Hirnforscher das Denken erklärt.

 

Könnten Sie sich vorstellen, dass die Schwedische Akademie jedes Jahr nicht nur Nobelpreise vergibt, sondern auch den besten Sachbuchautor wählt?

 

Klein: Warum nicht? Wissenschaft erzählt keine Geschichte, gute Sachbücher erzählen Geschichten. Das ist eine originär schriftstellerische Leistung, die weit über das bloße Aufschreiben und Übersetzen von Forschung in eine dem breiteren Publikum zugängliche Sprache hinaus geht, sondern es geht darum, Forschungsergebnisse, häufig Hypothesen, sogar Spekulationen in einen breiteren, auch gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen. Beim Sachbuch, das sich an ein breiteres Publikum richtet, wird häufig übersehen, welche Rolle es in der Kommunikation zwischen Wissenschaftern spielen kann.

 

Ein Festkörperphysiker kann eine Veröffentlichung eines Teilchenphysikers nicht lesen. Die Wissenschaften sind heute so spezialisiert, dass selbst Wissenschafter einer Fachrichtung so genannte populäre Bücher zur Kommunikation untereinander brauchen.

 

erschienen in: DER STANDARD (Wien) 13.12.2006