Warum Egoisten unglücklicher leben und früher sterben

Was haben wir davon, wenn wir hilfsbereit und großzügig sind? Gar nichts, antworten nicht wenige Zeitgenossen hinter vorgehaltener Hand. Ihrer Meinung nach ist es nur einer Dressur zu verdanken, wenn Menschen wenigstens gelegentlich auch an andere denken. Zweifellos hörten wir unserem Leben Tausende Ermahnungen zur Anständigkeit – von der Anweisung der Eltern, die kostbaren Süßigkeiten mit den Geschwistern zu teilen, bis hin zu den Lehren der Religion. Aber die Frucht dieser Erziehung zur Selbstlosigkeit ist vergiftet: Wir zweifeln längst selber daran, dass wir uns aus freien Stücken um andere kümmern.

Dabei nehmen wir viele Alltagserfahrungen, die in eine ganz andere Richtung weisen, gar nicht mehr wahr. Wenn wir einem Fremden den Weg in unserer Stadt zeigen können, einem Kind eine Freude bereiten oder Menschen in Not Geld spenden, fühlen wir uns gut. Und die Hochstimmung, die uns nach einer selbstlosen Tat oft ereilt, ist keine Illusion. Wie neue Ergebnisse der Hirnforschung zeigen, werden bei den meisten Menschen Zentren für Lust aktiv, wenn sie freiwillig anderen etwas geben. Es sind dieselben Schaltungen, die uns auch beim Genuss einer Tafel Schokolade, eines geliebten Musikstückes oder auch beim Sex angenehme Gefühle bereiten. Süßer Egoismus, bittere Moral? Tatsächlich scheint geteilte Freude doppelte Freude zu sein.

Und das Glück, für andere da zu sein, ist von Dauer. Frauen und Männer, die sich für ihre Mitmenschen einsetzen, sind messbar zufriedener als andere, die nur den eigenen Interessen nachgehen. Medizinische Untersuchungen förderten noch erstaunlichere Fakten zutage. Selbstlose Menschen leiden nicht nur auffallend selten unter Depressionen, ihr Gesundheitszustand ist allgemein besser. Sie leben sogar länger. Intensive soziale Beziehungen halbieren glattweg das Sterberisiko in jedem Alter. Der Grund ist keineswegs, dass hilfsbereite Menschen mehr Hilfe und mehr Zuneigung von anderen bekommen. Wem unser Einsatz zugutekommt – Familienmitgliedern, Freunden, Bedürftigen in der Nachbarschaft oder gar Unbekannten – ist ebenfalls unerheblich für die lebensverlängernde Wirkung. Entscheidend ist allein, wie viel wir geben. Diese Ergebnisse einer inzwischen klassischen Langzeitstudie in Kalifornien erschien den Wissenschaftlern zunächst so unglaublich, dass man ähnliche Daten auch an jeweils über 1000 anderen Senioren in Amerika und in Spanien erhob. Das Fazit war überall gleich: Wer gut zu anderen ist, dem geht es selbst besser.

Steht also mehr als Zufall dahinter, dass Menschen wie Albert Schweitzer, Mutter Theresa oder Nelson Mandela trotz ihrer enorm harten Leben sich ihres 85. Geburtstags in guter Gesundheit erfreuten, dass Mahatma Gandhi unmittelbar vor seiner Ermordung mit 78 Jahren noch einen Hungerstreik für den Frieden in seinem Land durchstehen konnte?

Dass Engagement für andere das eigene körperliche und seelische Wohlbefinden steigert, ist auf den ersten Blick paradox. Wer von seinen Ressourcen den Mitmenschen etwas abgibt, scheint im Nachteil gegenüber gerisseneren Zeitgenossen, die ihre Kraft, Zeit und Geld nur für die eigenen Ziele einsetzen. Darum liegt es auch nicht auf der Hand, warum es uns Freude macht, zu helfen und zu schenken: Hat die Evolution doch positive Emotionen als Signal für Situationen erfunden, die für uns vorteilhaft sind.

Den scheinbaren Widerspruch überwand erst eine neue Sicht auf die Ursprünge des Menschen, die sich allmählich durchsetzt. Demnach hatten unsere fernen Vorfahren in Afrikas Savannen gar keine andere Möglichkeit, als sich um andere zu kümmern. Unsere Ahnen mussten erst die freundlichen aller Affen werden, bevor sie eine Chance hatten, auch die klügsten Affen zu sein. Denn je größer und lernfähiger ihre Gehirne wurden, umso länger dauerte die Kindheit, und umso weniger konnte ein Elternpaar alleine seinen Nachwuchs mehr als ein Jahrzehnt lang ernähren. „Es braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen“, besagt ein bekanntes afrikanisches Sprichwort. Diese Weisheit galt in einem ganz buchstäblichen Sinne bereits für die ersten Vertreter unserer Art: Nur in der Gemeinschaft können sich Menschen vermehren.

So wurde das menschliche Gehirn darauf programmiert, hilfsbereit und großzügig zu sein. Gruppen, in denen die frühen Menschen füreinander sorgten, blühten, auf; andere gingen unter. Die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen und sich in sie hineinzudenken, entwickelte sich. Verantwortlich ist ein empathisches Hirnsystem, das ganz anders funktioniert als das gewohnte strategische Denken. Wenn wir andere Menschen in Freude oder Schmerz erleben, spiegeln wir ihre Gefühle in unserem eigenen Kopf wieder. Als löste sich die Grenze zwischen „dir“ und „mir“ auf, schwingen dann beide Gehirne im Gleichtakt. Ähnliche Mechanismen sorgen für Vertrauen und gegenseitiges Verstehen. Anders als Philosophen lange vermuteten, muss man uns Mitgefühl keineswegs gegen einen egoistischen Kern unserer Persönlichkeit anerziehen: Wir kommen mit den Anlagen dazu auf die Welt, und sie zeigen sich schon in der frühesten Kindheit. Und gleich ob im Regenwald Papua-Neuguineas oder in den Wolkenkratzern Manhattans – Menschen sämtlicher Kulturen sorgen sich auf ganz ähnliche Weise um das Wohl anderer. Offenbar haben wir Gene für Altruismus

Dass die Welt von Egoisten nur so wimmelt, spricht nicht dagegen. Denn fraglos sind Menschen nicht nur darauf eingerichtet, selbstlos zu sein. Möglicherweise sind unsere Anlagen, erst auf den eigenen Vorteil zu achten, sogar stärker. Entscheidend ist aber, dass ein natürliches Gegengewicht, dessen Wirkung wir nicht einfach abschalten können, unseren Egoismus ausbalanciert. Wie altruistisch ein Mensch sich in bestimmten Situationen verhält, ist auch Veranlagungssache; Untersuchungen an Zwillingen zeigen, dass dem einen mehr, dem anderen weniger Neigung zur Selbstlosigkeit genetisch eingeprägt ist.

Doch die Bandbreite, innerhalb derer jeder seine Talente einsetzen kann, ist enorm. Der Mensch ist ein geborener Läufer, weshalb jede gesunde Person nach entsprechendem Training einen Marathon bewältigen kann. Andere legen selbst kurze Wege im Auto zurück, sodass ihre Beinmuskulatur völlig verkümmert. Genauso können wir unsere Anlagen zum Altruismus vernachlässigen – oder sie kultivieren.

Allerdings hat die Natur mit den guten Gefühlen ein raffiniertes Mittel erfunden, um uns zu dem zu verführen, was sie von uns will. Sex ist aufregend und angenehm, weil wir uns fortpflanzen sollen. Wirkungsvoller, als vielen lieb ist, sind auch die Lustgefühle beim Essen, damit wir Fettpolster für schwere Zeiten anlegen. Auf ganz ähnliche Weise belohnt uns die Natur für Hilfsbereitschaft und Fairness.

Wenn wir uns um das Wohl anderer kümmern, werden im Kopf Hormone wie Opioide und Oxytocin ausgeschüttet; beide spielen auch beim Sex eine wichtige Rolle. Opioide sind eine Art natürliches Rauschmittel. Von den Wirkstoffen der Drogen Opium und Heroin unterscheiden sie sich nur dadurch, dass sie im Gehirn selbst hergestellt werden. Sie stimmen uns euphorisch.

Und ohne Oxytocin wäre die Fortpflanzung der Säugetiere undenkbar. Es fließt beim Orgasmus in Strömen, sorgt bei monogamen Geschöpfen für die Bindung an einen Partner, steuert nach der Geburt die weibliche Milchproduktion und die wohlige Entspannung beim Stillen, lässt ganz allgemein das eigene Baby als liebenswert erscheinen. Im Laufe der Evoution übertrugen sich die Wirkungen des Oxytocins auf andere menschliche Beziehungen. Bei Männern wie Frauen steigert es die Bereitschaft zu vertrauen, mit den Mitmenschen Beziehungen einzugehen, sich um sie kümmern. Auch Oxytocin hebt die Stimmung, vor allem löst es die Angst.

Damit bieten die hormonellen Grundlagen der Selbstlosigkeit eine Erklärung, warum Altruisten in der Regel nicht nur glücklichere, sondern auch gesündere Menschen sind: Sowohl die Opioide als auch Oxytocin wirken der Stressreaktion entgegen. Beide dämpfen die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol und beugen so nicht nur Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sondern auch Infektionen vor. Denn chronischer Stress schädigt die Blutgefäße und behindert das Immunsystem.

Diese Zusammenhänge lösen vielleicht sogar das Rätsel, warum Frauen in allen Kulturen länger leben als Männer, obwohl Schwangerschaft und Geburt ihre Körper enorm belasten. Dass nämlich die positiven Wirkungen der Hingabe an die Kinder die Belastungen mehr als aufwiegen können, zeigt an unseren biologisch nächsten Verwandten. Bei den meisten Affenarten scheren sich die Väter nicht um ihren Nachwuchs – und werden von den Weibchen überlebt. Doch es gibt Ausnahmen: Bei den südamerikanische Springaffen etwa übernimmt das Männchen die gesamte Kinderbetreuung, während Mutter nur zum Säugen antritt. Und bei diesen Tieren lebt das Männchen tatsächlich länger. Zahlen sich womöglich auch die Babymonate eines menschlichen Vaters in mehr Lebensjahren aus?

Für den Nachwuchs zu sorgen ist allerdings nur eine von unzähligen Möglichkeiten, altruistisch zu sein, und fraglos wirkt Einsatz für andere auf vielerlei Wegen auf den Gebenden zurück. Wer weiß, dass er gebraucht wird, geht in aller Regel schon aus diesem Grund sorgsamer mit sich selbst um.

Bedeutsam sind solche Erkenntnisse nicht nur für jeden Einzelnen, sondern auch für die ganze Gesellschaft. Schwere Depressionen verbreiten sich in Deutschland wie in den meisten Ländern in Furcht erregendem Tempo. Innerhalb nur eines Jahrzehnts hat sich das Risiko für junge Menschen, krankhaft schwermütig zu werden, mehr als verdreifacht. Und in weiteren zehn Jahren werden Depressionen laut der Weltgesundheitsorganisation bei Frauen die verheerendste Krankheit sein. Bei Männern werden nur – zumeist stressbedingte – Herz-Kreislauf-Erkrankungen noch mehr Schaden anrichten. Sicher ist, dass Einsatz für andere diesen Volksleiden vorbeugen kann.

Das Prinzip „jeder für sich“, das unsere Gesellschaft während der vergangenen Jahrzehnte zu ihrem Leitbild erhob, erwies sich als hochgradig riskant. Es ist höchste Zeit zu begreifen, dass wir Menschlichkeit im Umgang mit anderen schon deswegen brauchen, weil sie das eigene Wohlbefinden erhöht. Die uralte Frage, ob man sich um andere oder lieber um das eigene Glück kümmern soll, hat ihre Antwort gefunden: Um beides – weil es das eine ohne das andere nicht gibt.

Erschienen in: Focus 37 / 2010