"Dürfen wir kurz stören, Leonardo da Vinci?"

erschienen in Zeit Magazin 42/08

Im Jahr 1514 lebt Leonardo da Vinci in Rom. Er ist dem Ruf Julian II de' Medicis gefolgt, des mächtiges Bruders des neuen Papstes Leo X. Mit den Mitgliedern seiner Werkstatt wohnt der inzwischen 62jährige Meister im Belvedere-Hof des Vatikans, der zu den päpstlichen Gemächern gehört. Der aus der Zukunft angereiste Interviewer wird in einen Atelierraum im Seitenflügel geführt, in dem mehrere Staffeleien unfertige Ölgemälde tragen. Eines davon zeigt eine junge Frau mit einem sonderbaren Lächeln; ihre schwarzen Augen scheinen den Betrachter fortwährend anzusehen.

Einige Schritte von dem Bild entfernt steht Leonardo, in einen knielangen Umhang gehüllt. Sein Kopfhaar ist weiß und schütter, aber der Bart wallt ihm noch bis auf die Brust. Leonardos linke Hand zittert leicht, vielleicht die Folge eines Schlaganfalls. Er arbeitet an einem pyramidenförmigen Gestell, in dessen Innerem hunderte kleiner Spiegel aufgehängt sind.

 

Guten Tag, Messer Leonardo.

 

Ich grüße Dich auch.

 

Was ist das?

 

Das ist der Feuerspiegel. Und wenn Du sagst, dass der Spiegel zwar kalt sei, aber dennoch warme Strahlen werfe, so antworte ich darauf, dass der Strahl doch von der Sonne kommt und also bei seinem Weg über den Spiegel seiner Ursache gleichen muss.

 

Sie wollen die Sonnenenergie nutzen.

 

Energie? Dieses Wort kenne ich nicht. Mein Spiegel kann soviel Kraft in einem einzigen Punkt versammeln, dass man damit Wasser in einem Heiztank, wie sie in Färbereien benutzt werden, oder auch das Wasser für ein Schwimmbecken aufwärmen kann.

 

Ist ihnen eigentlich aufgegangen, dass sich mit ihrem Hohlspiegel auch ferne Gegenstände untersuchen lassen?

 

Natürlich. Hier ist eine Abdeckung. Öffne sie so, dass jeweils nur das Licht eines einzigen Planeten hindurch fällt. Die widergespiegelte Bild wird dir dann die Beschaffenheit dieses Planeten erklären.

 

Sehr beeindruckend. Den Begriff „Teleskop“ haben Sie wohl auch nie gehört...

 

Nein.

 

... aber bei allem Respekt: Sollten Sie Ihre Zeit nicht vielleicht besser darauf verwenden, zu malen? Dieses Portrait einer jungen Dame da etwa begleitet sie doch schon seit Jahren.

 

Ja, ja, die Lisa del Giocondo. Ihr Ehemann rief sie Monna Lisa. Er hat das Gemälde im Jahr 1506 bei mir bestellt. Damals in Florenz ...

 

Sie haben Florenz vor acht Jahren verlassen. Fertig ist das Bild immer noch nicht – während Ihre Rivalen Michelangelo und Raffael Auftrag um Auftrag abgeräumt haben. Ihr neuer Dienstherr, der Papst, macht sich sogar öffentlich lustig über Ihre wissenschaftlichen Interessen: Statt zu malen, würde dieser Leonardo sich lieber damit beschäftigen, wie ein Alchemist aus Ölen und Pflanzen Firnisse zusammen zu pantschen.

 

Es gibt Maler, die allein mit praktischer Erfahrung und Augenmaß arbeiten, aber ohne Verstand. Sie sind wie Spiegel, die alle Dinge wiedergeben, ohne sie zu kennen. Wer sich aber an der Praxis ohne Wissenschaft versucht, ist wie ein Seemann, der ein Schiff ohne Kompass betritt und nie sicher sein kann, wohin er fährt. Ohne Wissenschaft lässt sich in der Malerei überhaupt nichts Ordentliches erreichen.

 

Viele Kritiker weigern sich aber, Sie als einen ernst zu nehmenden Forscher zu sehen. Sie erinnern daran, dass Sie ja noch nicht einmal eine höhere Schule besuchten.

 

Ich weiß wohl, dass mancher eitle Laffe meinen wird, er könne mich mit Recht tadeln, weil ich ein Mann ohne Gelehrsamkeit sei. Dumme Leute! Sie laufen aufgeblasen und wichtigtuerisch herum, nicht mit ihren eigenen, sondern mit fremden Leistungen geschmückt, und wollen meine nicht gelten lassen. Wissen sie denn nicht, dass meine Lehren nicht so sehr aus den Worten anderer gezogen werden, als aus der Erfahrung? Unser ganzes Wissen beruht doch auf Wahrnehmungen.

 

Sie empfinden Ihre Kritiker als verstaubte Gelehrte, die nur Bücher wiederkäuen - während Sie selbst sich bemühen, die Welt mit den eigenen Augen und mit Experimenten zu verstehen?

 

Ganz genau. Welches Vertrauen sollten wir denn haben in die antiken Philosophen, die zu definieren versuchten, was Seele und Leib sind? Während Dinge, die man jederzeit hätte herausfinden und durch Sinneswahrnehmung beweisen können, viele Jahrhunderte lang unbekannt blieben oder missverstanden wurden. Entschuldige mich einen Moment.

 

Ein junger, gut aussehender Mann kommt herein und stellt sich als Francesco Melzi vor, Leonardos Assistent. Er zieht seinen Meister beiseite und flüstert ihm etwas zu. Leonardo erschrickt.

 

Was ist geschehen?

 

Er hat mich beim Papst verleumdet, und im Spital. Er behindert meine anatomische Arbeit.

 

Wer, er?

 

Johannes, dieser Deutsche, der für mich die Spiegel herstellt. Er spioniert schon länger in meiner Werkstatt herum, und hängt alles an die große Glocke. Seinetwegen kann ich nichts heimlich machen.

 

Sie haben sich sehr bemüht zu verhindern, dass sich Ihre Arbeit an Leichen herumspricht. Sie sezierten sie nachts.

 

Ja. Aber allein um eine wahre und vollständige Kenntnis der Blutgefäße zu gewinnen, musste ich mehr als zehn menschliche Körper zerlegen. Ich zerstörte dabei alle übrigen Teile und entfernte alles Fleisch, das um diese Gefäße herum lag. Und da ein einziger Körper sich nicht so lange hielt, wie nötig war, so musste ich an vielen Körpern nacheinander fortfahren, bis ich eine vollständige Kenntnis gewann.

 

Hat es Sie denn nie geekelt?

 

Doch, und wie! Selbst wenn Du die nötige Liebe für anatomische Untersuchungen haben magst, so wirst du vielleicht durch deinen Magen davon abgehalten werden, und wenn dieser dich nicht abhält, dann wird Dich vielleicht die Furcht erschrecken, die Nachtzeit in der Gesellschaft solcher gevierteilter und enthäuteter und schrecklich aussehender Leichen zu verbringen.

 

Warum taten Sie sich das an? Für Ihre Malerei hilft es gar nichts, wenn Sie das Netz der Blutgefäße besser verstehen.

 

Mich zieht ein unbändiges Verlangen, die ungeheure Fülle von seltsamen Formen zu schauen, welche die findige Natur geschaffen hat. Meine Emotionen beim Forschen sind wie beim Kennenlernen einer großen, unbekannten Höhle. Ich stehe also vor dem Eingang ins Erdinnere, blicke bald hierhin, bald dorthin, weil ich sehen will, was mich erwartet. Aber daran hindert mich das tiefe Dunkel, das in der Höhle herrscht. Und nach einer Weile regen sich plötzlich zwei Gefühle in mir, nämlich Furcht und Begierde: Furcht vor der düster drohenden Höhle und Begierde, herauszufinden, ob dort darin etwas Wunderbares sei.

 

Fast immer hat Ihre Neugier gesiegt – nicht nur gegen Ihre eigene Furcht, sondern auch gegen die Tabus der Gesellschaft. Sogar über das Gebot der christlichen Totenruhe setzen Sie sich hinweg. Was antworten Sie auf den Vorwurf, dass sie diese Erkenntnisse nur durch das Schänden von Leichen gewannen?

 

Edle Menschen haben natürlicherweise den Wunsch nach Wissen. Und Forscher, wenn Du Dir über diese unsere Maschine Gedanken machst, so lass Dich nicht erschrecken davon, dass Du Dein Wissen dem Tod eines anderen verdankst. Lobe lieber unseren Schöpfer dafür, dass er unserem Verstand solch eine vortreffliche Auffassungsgabe verlieh.

 

Sie sehen den menschlichen Körper als eine Maschine?

 

Sicher. Arme und Beine, selbst die Beißkraft einzelner Zähne folgen dem Hebelgesetz. Anschwellende Muskeln funktionieren wie Keile. Und Sehnen halten die Schenkel im Gelenk wie die Wanten den Mast eines Schiffs.

 

Sie haben einige der Menschen, deren Körper sie später aufschnitten, gekannt.

 

Das war damals in Florenz, im Krankenhaus Santa Maria Nuova. Dort erzählte mit ein Greis wenige Stunden vor seinem Tod, er habe hundert Jahre gelebt und fühle kein Gebrechen in seinem Leib, außer Schwäche. Und wie er so auf seinem Bett im Spital saß, schied er ohne jede Regung aus dem Leben. Ich begann nun eine anatomische Untersuchung, um die Ursache eine so sanften Tods zu ergründen.

 

Was fanden Sie?

 

Der Verfall kam vom Versiegen des Bluts in jener Arterie, die das Herz und die anderen Körperteile ernährt. Diese fand ich ganz vertrocknet, zusammengeschrumpft und welk. Die alten Leute, die eine rüstige Gesundheit haben, verenden an Nahrungsmangel. Der Durchgang in den Blutgefäßen wird immer enger, bis sich die Kapillaren vollkommen schließen.

 

Wir nennen das Arteriosklerose. In der Zeit, aus der ich komme, werden fast alle Menschen so alt wie Sie, Meister. Es gibt keine Pest mehr, nur noch wenige Kriege und fast alle Frauen überleben das Kindbett ... die meisten Leute sterben hochbetagt an den Folgen der Arteriosklerose. Das von Ihnen entdeckte Phänomen hat übrigens erst im 18. Jahrhundert ein Elsässer Chirurg namens Jean Lobstein benannt.

 

Arteriosklerose – das Wort gefällt mir. Es ist ja wirklich so: Mit der Hülle der Adern im Menschen verhält es sich wie mit Orangen – je älter sie werden, umso dicker wird die Schale. Als ich einen zweijährigen Knaben untersuchte, stellte ich, dass alles ganz anders war als bei dem Alten.

 

Hätten Sie es dabei belassen ... vermutlich hätten Sie dann jetzt weniger Ärger. Aber sie mussten ja das Leben Ungeborener studieren. Vor kurzem vollendeten Sie eine ganze Serie von Zeichnungen, die zeigen, wie der Fötus im Mutterleib heranwächst. Und daneben lesen wir Bemerkungen über die Seele. Was wollten Sie uns damit sagen?

 

Das Ungeborene wird durch das Leben der Mutter belebt und von ihr ernährt. Auch beherrscht ein und dieselbe Seele die beiden Körper, denn dieses Geschöpf hat die Wünsche und Nöte und Schmerzen mit der Mutter gemeinsam.

 

Sie meinen, zwei Wesen, deren Körper zusammenhängen, müssen auch ihre Seele teilen, denn Seele und Körper sind untrennbar miteinander verbunden?

 

Ganz genau. Jeder Teil ist stets bereit, sich mit seinem Ganzen zu vereinen, damit er seinen Unzulänglichkeiten entfliehen kann. Und der Wunsch der Seele ist es, in ihrem Körper zu wohnen, denn ohne seine Werkzeuge kann sie weder denken noch fühlen.

 

Meister, das ist Häresie. Nach Meinung der Kirche wird dem Menschen seine Seele im Moment der Zeugung verliehen. Und die Seele ist zwar mit dem Körper verbunden, doch nicht von ihm abhängig, weil unsterblich. Ihr amtierender Papst Leo X. hat darüber eigens eine Bulle verfasst. Er verdammte schärfstens die »abscheulichen Ketzer« , die es wagten, an der kirchlichen Seelenlehre zu zweifeln. Haben Sie denn keine Angst?

 

Ich kenne meine Grenzen. Habe ich je behauptet, genaueres über die Seele zu wissen? Was immer sie auch sein mag, sie ist ein göttliches Ding. Definitionen darüber überlasse ich dem Verstand der Mönche, den Vätern des Volkes, die durch Inspiration um alle Geheimnisse wissen. Lasst die heiligen Schriften gelten, denn sie sind die höchste Wahrheit.

 

Sie klangen nicht immer so zahm, Leonardo. Einmal bestritten Sie sogar die biblische Geschichte der Genesis.

 

Als ich noch Mailänder Hof arbeitete, erschienen eines Tages Bauern aus den Bergen von Parma und Piacenza in meiner Werkstatt. Sie hatten einen großen Sack von zerfressenen Muscheln und Korallen dabei, die sie auf ihren Feldern eingesammelt hatten. Sehr viele waren noch in ihrer ursprünglichen Vollkommenheit erhalten.

 

Die Bauern wollten ein Geschäft mit Ihnen machen. Was schlossen Sie aus dem Fund?

 

Die Muscheln kamen aus einer Höhe von mehr als 1000 Ellen. Aber die Gipfel in dieser Gegend sind viel höher. Wenn du meinst, dass diese Sintflut sieben Ellen über den höchsten Berg stieg …

 

die Bibel spricht von 15 Ellen ...

 

… dann müssten diese Muscheln, die immer in der Nähe der Meeresufer weilten, doch auf diesen

Bergen liegen. Doch sie liegen an deren Fuß, und zwar überall auf gleicher Höhe, Schicht für Schicht. Ich habe die versteinerten Muscheln auch im Tal des Arno nahe meiner Geburtsstadt Vinci, in der Lombardei und in den Bergen von Verona gefunden.

 

Sie haben Italien auf der Suche nach Fossilien durchwandert?

 

Ich habe sie überall gesammelt. Und wohin ich auch kam, stets fand ich ähnliche Schichten. Wegen dieser Muschelschichten glaube ich, dass ganz Italien einst allmählich aus einem riesigen Meer aufgetaucht ist. So wurden die Meeresböden Bergrücken. Die Geschichte mit der Sintflut kann also einfach nicht stimmen. Und die Schar der Ahnungslosen, die das nicht wahr haben will, beweist damit nur ihre Dummheit und Einfalt.

 

Leonardo, wir schreiben das Jahr 1514. Alle nehmen die Bibel wörtlich. Sie sind sehr hart mit ihren Zeitgenossen.

 

Manche Zeitgenossen sollen sich nur als Durchgang für die Nahrung, als Verehrer des Unrats und als Füller von Jauchegruben bezeichnen, weil nichts Gutes durch sie vollbracht wird, und weil sie nichts anderes hinterlassen als volle Jauchegruben.

 

Warum werden Sie denn so wütend?

 

Die Unwahrheit ist dermaßen abscheulich, dass sie selbst dann, wenn sie Gottes Werke lobt, ihn in seiner göttlichen Anmut beleidigt. Die Wahrheit dagegen ist so vortrefflich, dass sie die geringsten Dinge veredelt, wenn sie nur von ihnen spricht. Wer sich aber nicht um die volle Erkenntnis bemüht, versündigt sich an der Erkenntnis und an der Liebe. Denn Liebe für irgendeine Sache erwächst aus der Erkenntnis, und die Liebe wird umso inniger, je sicherer die Erkenntnis ist.

 

Ludovico Sforza, der Herzog von Mailand, hat sie nicht 15 Jahre lang für Ihre Wahrheitsliebe bezahlt. Er wollte ein riesiges Reiterstandbild von Ihnen.

 

Vor allem wollte er Waffen.

 

Und Sie sollten sie bauen.

 

In meinem Bewerbungsschreiben habe ich dem Herzog Katapulte von wundersamer Wirksamkeit in Aussicht gestellt. Ich verspracht ihm Pulvergeschütze, mit denen man einen Steinhagel erzeugen konnte, und deren Rauch dem Fein gewaltigen Schrecken einjagt, natürlich sehr zu seinem Schaden und seiner Verwirrung. Und unangreifbare, gedeckte Wagen, die mit ihren Geschützen durch die Reihen des Feindes fahren und jeden noch so großen Haufen von Bewaffneten zersprengen.

 

Wir sagen Panzer dazu. Aber Sie haben sich mit noch weit scheußlicheren Mitteln der Kriegsführung befasst. Sie planten einen Giftkrieg.

 

Ja. Mit kleinen Katapulten sollte ein Puder aus Kalk, Arsen und Grünspan auf die feindlichen Schiffe geworfen werden; alle, die den Staub einatmen, würden sterben. Ich riet dringend, darauf zu achten, dass kein Wind weht, der den Staub auf dich zuweht, oder wenigstens Nase und Mund durch ein dünnes nasses Tuch zu schützen, damit der Staub nicht eindringen kann.

 

Stimmt es eigentlich, dass Sie sich weigerten, Fleisch anzurühren, um keinem Geschöpf zu schaden?

 

Nun, erzeugt die Natur nicht genug einfache Speisen, um einen zu befriedigen?

 

Und Sie haben den Krieg auch eine „bestialische Dummheit“ genannt?

 

Das ist er doch! Wenn Du die wunderbaren Werke der Natur gesehen hast, und Du es eine abscheuliche Tat findest, sie zu zerstören, dann überlege Dir, wie unendlich abscheulich es ist, einem Menschen sein Leben zu nehmen.

 

Wie konnten Sie dann Massenvernichtungswaffen entwerfen?

 

Um das Hauptgeschenk der Natur, nämlich die Freiheit, zu bewahren, erfand ich Angriffs- und Verteidigungsmittel für den Fall, dass wir von ehrgeizigen Tyrannen bedrängt werden.

 

Das meinen Sie doch nicht ernst. Ludovico Sforza, Ihr Mailänder Dienstherr, war einer der expansivsten Tyrannen seiner Zeit. Und als er stürzte, ließen sie sich von Cesare Borgia engagieren – dem Sohn des Papstes Alexander VI. , der mit seinen Truppen halb Italien terrorisierte. Sie wurden sein Chefingenieur. Fast ein Jahr lang zogen sie mit diesem Mann, den alle für seine außerordentliche Brutalität fürchteten, durch die Lande.

 

Valentino ...

 

So nannten Sie ihn.

 

Wo ist er eigentlich?

 

Nachdem sein Vater, der Papst, starb und er das Land verlassen musste, geriet er in Spanien in einen Hinterhalt und wurde erschlagen.

 

Er hatte mir ein Manuskript des Archimedes aus der Bibliothek des Erzbischofs von Padua versprochen. Den Sold schuldete mir auch noch.

 

Als Sie nach ihren Feldzügen mit Borgia nach ihre Vaterstadt Florenz zurückkehrten, mussten Sie buchstäblich von vorne anfangen – mit über 50 Jahren. Man rühmte sie weithin als Künstler, aber mit den Auftraggebern in dieser Stadtrepublik kamen Sie nicht mehr zurecht. Es muss eine harte Zeit gewesen sein. Sie lebten vom Ersparten.

 

Ein abgeschnittener Baum, der wieder ausschlug: Ich hoffte noch.

 

Sie schlugen ehrbaren Kunden die Tür vor der Nase zu. Selbst die kunstsinnige Herzogin Isabella d'Este von Ferrara wiesen Sie ab – obwohl sie fast darum bettelte, ein Gemälde von Ihnen zu bekommen. Ihr wurde nur beschieden, der Meister sei zu beschäftigt mit mathematischen und wissenschaftlichen Studien, um zu malen. Sie widmeten sich Versuchen, den Kreis zu quadrieren – und zu fliegen.

 

Dazu musste ich erst einmal den Vogelflug zu verstehen. Denn Vögel sind Flugmaschinen.

 

Sie streiften tagelang über die Hügel oberhalb von Florenz und beobachteten Greifvögel.

 

Den Milan, der dort lebt, so klar zu beschreiben, schien meine Bestimmung zu sein; denn in der frühesten Erinnerung an meine Kindheit war mir immer so, als sei zu der Zeit, da ich noch in der Wiege lag, ein roter Milan zu mir gekommen und habe mir den Mund mit seinem Schwanz geöffnet.

 

Diese Geschichte kennen wir. Sigmund Freud, ein von vielen meiner Zeitgenossen hoch geschätzter und Ihnen natürlich unbekannter Wiener Seelenarzt, verfasste im Jahr 1910 ein ganzes Buch über sie. Leider übersetzte er aus Ihren Notizbüchern statt Milan fälschlich „Geier“. Freud deutete Ihre Erinnerung als verschlüsselten Hinweis auf Ihre Homosexualität.

 

Unsinn. Ich wollte einfach fliegen. Schon zwei Jahrzehnte zuvor, in Mailand, plante ich die ersten Flugmaschinen. Ich notierte mir sogar, wie ich meine Konstruktionen im Corte Vecchia, dem herzoglichen Kastell, ohne großes Aufsehen ausprobieren konnte. Mein Plan war, den oberen Saal mit Brettern zu verrammeln und aufs Dach zu gehen. Dabei galt es, oben aber auf der Seite des Turmes zu bleiben, damit die mich die Bauarbeiter auf der noch unfertigen Spitze des nahe gelegenen Doms nicht sehen konnten.

 

Wie sind Ihre Mailänder Versuche verlaufen?

 

Kein Kommentar.

 

Als sie dann nach ihren Abenteuern mit Borgia nach Florenz zurückgekehrt waren, hofften Sie offenbar, mit einem Fluggerät vom Monte Ceceri abzuheben. Eingedeutscht heißt diese Anhöhe über der Stadt „Schwanenberg“.

 

Ich hoffte, der große Vogel werde seinen ersten Flug über dem Rücken des Großen Schwans unternehmen. Er sollte die ganze Welt mit Staunen und alle Schriften mit seinem Ruhm erfüllen, und dem Ort, wo er geboren wurde, zu ewiger Herrlichkeit gereichen.

 

Der Monte Ceceri erhebt sich mehr als 400 Meter über Florenz. Fanden Sie es nicht gefährlich, da zu starten?

 

Ein Helfer legt dem Flieger Weinschläuche an, die mit Luft aufgeblasen und nach Art eines Rosenkranzes zusammengebunden sind. Fällt ein Mensch damit aus 6 Ellen Höhe herab, so wird er sich nicht weh tun, ob er nun ins Wasser oder auf den Boden fällt. Fällst Du aber mit einem doppelten Schlauch herab, den Du unter dem Gesäß hast, so sorge dafür, dass Du mit ihm auf dem Boden aufschlägst.

 

Sie konnten ihren pneumatischen Schutzanzug sicher gut brauchen. Der Arzt und Naturphilosoph Gerolamo

Cardano notierte ein einige Jahre später über ihre Versuche: „Leonardo versuchte zu fliegen und scheiterte.“

 

Tja.

 

Wissen Sie eigentlich, wie brauchbar manche Ihrer Tragflächen waren? Kurz bevor ich aus meinem Jahrhundert zu Ihnen aufgebrochen bin, sind Menschen mit leicht veränderten Nachbauten ihrer Konstruktionen geflogen.

 

Wirklich?

 

Ich habe die Flügel selbst gesehen. Englische Flugzeugingenieure haben sie nach den Plänen gebaut, die Sie hinterließen.

 

Wie weit sind sie geflogen?

 

Mehr als 200 Meter, das sind 600 Florentier Ellen. Wissen Sie auch, dass erst wir Nachgeborenen am Beginn des 21. Jahrhunderts beginnen, weite Teile Ihrer Aufzeichnungen richtig zu lesen? Das wir so lange im Dunklen tappten, liegt auch daran, dass sich bisher vor allem unsere Kunstwissenschaftler mit Ihren befasst haben. Diese konnten wenig anfangen mit den hydraulischen Experimente, den Gesetze der Aerodynamik oder auch der Anatomie, die Sie erforschten.

 

Niemand, der der mathematischen Wissenschaften unkundig ist, soll meine Werke lesen.

 

Erst in den Jahren vor meiner Abreise zu Ihnen begannen Fachleute der Wissenschaften, mit denen Sie sich befassten, ihre Schriften systematisch zu studieren. Sie brachten die erstaunlichsten Dinge zu Tage. Beispielsweise haben Sie künstliche Herzklappen erfunden und die Blutströmungen im menschlichen Herzen zutreffend gezeichnet ...

 

... ja, ich baute mir ein Herz aus Glas, füllte es mit Wasser, warf Hirsekörner hinein und beobachtete sie.

 

Wissenschaftler meiner Epoche gelang es im Jahr 1998, diese Strömungen zu untersuchen. Sie benutzten Computertomographen. Andere Experten erklären sogar, Sie hätten Roboter und den ersten digitalen Computer entworfen. Bitte entschuldigen Sie, dass ich Worte aus einer sehr fernen Zukunft gebrauchen muss, die Sie nicht kennen. Erstaunt es Sie, dass wir manche Ihrer Ideen erst 500 Jahre nach Ihrem Tod verstehen?

 

Es überrascht mich nicht sehr. Eine meiner Lebensmaximen war: Unterlasse diejenigen Arbeiten, deren Ergebnis mit dem Arbeiter stirbt. Denn es fehlt uns nicht an Mitteln, um unsere spärlich gezählten Tage zu messen; darum sollte es uns eine Freude sein, sie weder unnütz zu vergeuden noch ruhmlos zu verbringen, ohne dass sie irgendeine Erinnerung im Geist der Sterblichen hinterlassen.

 

Ihre Notizbücher und Aufzeichnungen sind voller Rezepte, die Sie zur Schulung des menschlichen Geistes empfehlen – und wohl auch verwendeten. Können denn alle Menschen die Leistungsfähigkeit ihres Verstands steigern?

 

Ich erzähle Dir eine kleine Geschichte. Eine Rasierklinge sah eines Tages, wie die Sonne auf ihrer Oberfläche funkelte. Voll Stolz beschloss sie, nicht mehr zur Arbeit beim Barbier zurückzukehren und suchte sich ein ruhiges Versteck. Als sie nach ein paar Monaten wieder ans Tageslicht trat, stellte sie fest, dass all der Glanz verschwunden war, weil eine Rostschicht sie bedeckte. So ist es auch mit dem menschlichen Geist: Man muss ihn ständig gebrauchen. Sobald wir uns aber der Bequemlichkeit hingeben, verliert er, wie die Rasierklinge, seine Schärfe, und ein hässlicher Rost der Ignoranz verunstaltet ihn. Lebe wohl!

 

(Alle Antworten sind den Manuskripten Leonardos entnommen)