Helden des Helfens
Wir können die Welt verändern und Armut für immer Geschichte sein lassen. Dazu brauchen wir nur einen Internetanschluss und etwas mehr Mut.
Stellen Sie sich vor, Sie haben Ihr Leben lang von einem edlen Sportwagen geträumt. Lange haben Sie gespart, und nun endlich sind Sie stolzer Besitzer eines Bugatti. Eines Tages entschließen Sie sich während einer Ausfahrt zu einem kleinen Spaziergang. Sie parken das Auto an einem Abstellgleis. In der Ferne spielt ein Kind auf den Schienen.
Während Sie nun den Bahndamm entlangwandern, sehen Sie, wie ein offenbar außer Kontrolle geratener Waggon auf das Kind zurast. Es befindet sich außer Hörweite, und Sie können es nicht rechtzeitig erreichen. Aber zufällig stehen Sie vor einem Hebel, mit dem Sie eine Weiche verstellen und den Waggon auf das Abstellgleis umlenken können. Damit würden Sie allerdings Ihren Bugatti verschrammen. Was tun Sie?
Keine Frage: Ein Mensch ist in Gefahr, und das Auto lässt sich mit ein bisschen Geld wieder ausbeulen. Und wenn sich die Szene in einem fernen Land abspielte, sagen wir in Afrika? Würde das einen Unterschied machen? Wohl kaum.
Dort aber ist tatsächlich das Leben eines Kindes bedroht – nur nicht von einem Güterwaggon, sondern von einer Infektion. Doch die Wahl bleibt im Grund gleich: Für weniger als den Preis einer Autoreparatur können Sie sicherstellen, dass der kleine Mensch überlebt. Sie müssen das Geld nur einer Organisation überweisen, die sich um das Kind kümmert.
Wie entscheiden Sie nun? Wenn Sie vorher bereit waren, ihren Bugatti zu opfern, haben Sie keinen Grund, jetzt die Hilfe zu verweigern. So argumentiert der New Yorker Philosoph Peter Unger, der dieses Gedankenspiel erfunden hat.
Jedes achte Kind in Afrika südlich der Sahara stirbt, bevor es das Schulalter erreicht – an Fehlernährung, vor allem aber an Durchfall und andere Infektionen, deren Behandlung nur ein paar Euro kosten würde. Doch die Kinder leben in extremer Armut, wie jeder vierte Mensch auf der Erde. Das bedeutet für die meisten nur eine Mahlzeit am Tag, ein Dach, durch das es hereinregnet, kein sauberes Trinkwasser. An solcher Armut sterben weltweit 22 000 Kinder – jeden Tag.
Warum nehmen wir ihren vermeidbaren Tod hin, während es uns klar unmoralisch erscheint, für einen unversehrten Sportwagen ein einziges Kind zu gefährden?
Geiz dürfte wohl kaum die Ursache sein. Wer es nicht glaubt, besuche dieser Tage ein Kaufhaus. Seit langem waren die Deutschen mit ihren Geschenken nicht mehr so großzügig. Im Berliner KaDeWe etwa finden Trenchcoats um die 800 Euro reißenden Absatz, umlagert sind der Stand mit dem Tiffanyschmuck und die Kaschmir-Plaids. Die Krise scheint ausgestanden, man möchte einander eine Freude bereiten.
Auch die Bedürftigen in fernen Ländern gehen nicht leer aus. Die Deutschen können sich rühmen, 2009 rund 800 Millionen Euro für Not- und Entwicklungshilfe gespendet zu haben. Das ist eine beachtliche Großzügigkeit – einerseits. Andererseits könnten die 80 Millionen Deutsche ohne Mühe sehr viel mehr geben.
Das Entwicklungshilfeprogramm der Vereinten Nationen hat einmal geschätzt, dass 13 Milliarden Euro pro Jahr ausreichen würden, um jedem Bürger der Erde eine einfache Gesundheitsversorgung und ausreichend Nahrung zukommen zu lassen. Diese Summe entspricht ziemlich genau dem Betrag, den wir Europäer jährlich für Eiscreme ausgeben. Das Leben von 22 000 Kindern und ungezählten Erwachsenen wäre damit zu retten.
Oft hört man die scheinbar rationale Rechtfertigung, die Probleme der armen Länder ließen sich mit Geld überhaupt nicht lösen. Immer wieder berichten die Medien von skandalösen Beispielen, wie Entwicklungshilfe mehr Schaden als Nutzen anrichtet: Tiefgefrorene Hähnchenschenkel, aus europäischen Kühlhäusern nach Westafrika verschifft, trieben dort die Geflügelzüchter in den Ruin. Mit deutschem Geld gebaute Elektrizitätswerke verrotten, weil keiner sie wartet. Millionen sind auf den Konten korrupter Machthaber verschwunden.
Zugegeben, all diese Fehlschläge sind Realität. Andererseits kann die internationale Hilfe auch mit vielen spektakulären Erfolgsgeschichten aufwarten. Nur werden diese selten erzählt, denn eine gute Nachricht ist bekanntlich keine Nachricht. Zum Beispiel haben Impfkampagnen gegen Masern seit der Jahrtausendwende mehr als 200 Millionen afrikanische Kinder erreicht und vermutlich weit über einer Million von ihnen das Leben gerettet, denn diese Virusinfektion verläuft in den Tropen oft tödlich. Die Kosten lagen bei weniger als einen Euro pro Spritze.
Oder der Kampf gegen tödliche Durchfallerkrankungen in Ägypten: Als die Weltgesundheitsorganisation und UNICEF an Mütter Päckchen mit Traubenzucker und Salzen gegen Dehydrierung verteilten, sank die Sterblichkeit von Kleinkindern binnen fünf Jahren um 43 Prozent. In Nepal wiederum retten Vitamin-A-Kapseln jährlich Zehntausenden mangelernährter Frauen und Kinder das Leben.
Nicht nur medizinische Maßnahmen wirkten. Noch nie konnten so viele Männer und vor allem Frauen lesen und schreiben wie heute. Während sich die Weltbevölkerung seit 1970 verdoppelt hat, ist die Zahl der Analphabeten gesunken. Und der Anteil der extrem Armen weltweit hat sich in diesem Zeitraum mehr als halbiert.
Hilfe hilft also durchaus, wenn sie bei den elementaren Bedürfnissen der Ärmsten ansetzt, statt Monumente der Hilfsbereitschaft zu bauen. Dann erzeugt sie auch keine Abhängigkeit. Kluge Unterstützung will weder Menschen durchfüttern noch ihnen Geschenke machen, sondern im Gegenteil ihre Kräfte entfesseln. Denn wer unterernährt oder von Infektionen geplagt dahinsiecht, kann nicht für seinen Unterhalt sorgen. Wer nicht einmal das Lesen und die Grundrechenarten gelernt hat, bleibt Tagelöhner. Wer keinen Kredit bekommt, kann kein Geschäft aufziehen. In allen Teilen der unterentwickelten Welt hat sich gezeigt, dass gerade die extrem Armen ihre Chance zu nutzen verstehen, wenn sie eine erhalten. Und ohne selbst auf viel zu verzichten, können wir dazu beitragen, ihnen eine zu geben.
Warum also tun wir es nicht? Rationale Gründe scheinen nicht vorzuliegen, also sind es offenbar unsere Gefühle, die den Ausschlag geben. Obwohl wir durchaus Mitleid mit dem Elend der Armen empfinden, macht es uns unsere Natur schwer, ihnen zu helfen. Und ein Blick in die ferne Vergangenheit erklärt, warum das so ist. Unser Wesen formte sich, als unsere Vorfahren in kleinen Gruppen lebten. Überleben konnten die frühen Menschen nur, wenn die Mitglieder der Gemeinschaft füreinander einstanden. Deshalb kommen wir keineswegs nur mit egoistischen Genen auf die Welt, wie oft behauptet wird, sondern mit der Anlage, für unsere Nächsten zu sorgen.
Doch Selbstlosigkeit ist in der Evolution nur dann ein Vorteil, wenn verschiedene Gemeinschaften um Ressourcen konkurrieren. Ohne Druck von außen fahren immer die Egoisten an besten. So konnten sich selbstlose Neigungen nur entwickeln, indem sich Gruppen voneinander abgrenzten. Und deshalb neigen wir dazu, Fremde von unseren Wohltaten auszuschließen. Es ist paradoxerweise der Preis, den wir für unsere natürliche Bereitschaft zur Selbstlosigkeit zahlen.
Insofern macht es Mut, wie viele Deutsche sich von den Fernsehbildern der Flutkatastrophe in Pakistan anrühren ließen. Für die Opfer kamen mehr als 160 Millionen Euro Spenden zusammen – fast soviel wie nach dem Erdbeben in Haiti. Und doch erscheint diese beeindruckende Zahl in einem anderen Licht, wenn man sie mit der Hilfsbereitschaft nach dem Jahrhunderthochwasser 2002 an der Elbe vergleicht. Damals wurde mehr als doppelt so viel gespendet, obwohl nur ein paar Zehntausend Bürger von der Flut betroffen waren. Die meisten konnten nach ein paar Tagen in ihre beschädigten Häuser zurückkehren. In Pakistan hingegen haben sieben Millionen Menschen alles verloren.
Die Evolution hat uns also programmiert, unseren Nachbarn zu helfen, nicht aber, globales Leid zu lindern. Allerdings haben wir auch keine Gene fürs Fahrradfahren und lernen es trotzdem. Und nie wurde uns das Helfen so leicht gemacht wie heute. Denn das Internet ist wie geschaffen dafür, fernen, anonymen Menschen ein Gesicht zu geben.
Wie viel sich erreichen lässt, wenn sich Geber und Empfänger persönlich begegnen, zeigt die amerikanische Webseite kiva.org. Hier bewerben sich Menschen aus Entwicklungsländern, meist Frauen, mit Lebensgeschichte und Fotos um einen Mikrokredit. Eine Lebensmittelhändlerin in Uganda möchte ihr Lager vergrößern, philippinische Fischersfrauen in ein neues Boot investieren. Per Mausklick kann man für ein bestimmtes Vorhaben Geld leihen. Kiva leitet es nicht nur an die Kreditnehmer weiter, sondern macht auf Wunsch auch alle Unterstützer eines Projekts miteinander bekannt. Und jeder erfährt regelmäßig, wie es vorangeht. (Ähnlich funktioniert die deutschsprachige Seite betterplace.org, die allerdings nicht um Kredite, sondern um Spenden wirbt.)
Über 160 Millionen Dollar Kredite konnte Kiva in den letzten Jahren vergeben. 99 Prozent des geliehenen Geldes fließen binnen weniger Monate zurück. Von solchen Quoten können Banken nur träumen. Entscheidend für den Erfolg ist, dass die zwischenmenschliche Begegnung im Netz Vertrauen und ein Gefühl gegenseitiger Verpflichtung und stiftet. Denn die Angst, ausgenutzt zu werden, ist das zweite große Hindernis auf dem Weg zu mehr Großzügigkeit.
Auch sie ist ein Ergebnis der Evolution selbstlosen Verhaltens. Damit Altruismus in einer Gruppe bestehen kann, müssen sich die Gutwilligen vor Trittbrettfahrern schützen. Wenn nämlich zu viele Schlawiner die Großzügigen ausbeuten, bricht die Kooperation über kurz oder lang zusammen, und jeder achtet nur noch auf den eigenen Vorteil. Deshalb haben wir so feine Antennen für Betrug.
Das bekam auch die deutsche UNICEF-Sektion zu spüren. Als im Jahr 2007 ruchbar wurde, dass sich die Kölner Geschäftsführung des Kinderhilfswerks überteuerte Berater leistete und obendrein Provisionen für eingeworbene Spenden verschwieg, zogen sich sofort Zehntausend Fördermitglieder zurück. Für die Empörten spielte es keine Rolle mehr, welch unbestritten vorzügliche Arbeit das Kinderhilfswerk vor Ort leistet.
Mit rührenden Bildern mag man Menschen dazu bringen, einmal ihre Geldbörse zu öffnen, aber dauerhafte Hilfsbereitschaft gedeiht nur auf dem Boden von Transparenz. Das weiß auch die neue Leitung von UNICEF, die die Missstände abgestellt hat. Aber mit Kontrollen gegen Veruntreuung ist es nicht getan. Vielmehr sollten die Hilfsorganisationen nicht nur dokumentieren, wo das Geld bleibt, sondern auch, was genau sie damit erreicht haben.
Leider lesen wir in den Jahresberichten der meisten Hilfswerke nur schöne Geschichten von Einzelerfolgen. Einen Schritt in die richtige Richtung gingen bislang nur wenige große Organisationen wie UNICEF, CARE und die Welthungerhilfe. Sie stellen neuerdings die Evaluationen all ihrer Projekte ins Netz. Jeder kann so nachverfolgen, wo und wie seine Beiträge tatsächlich die Welt verbesserten, und wo sich die Erwartungen nicht erfüllten.
Solche nachträglichen Evaluationen können jedoch nur ein Anfang sein. Denn inzwischen gibt es wissenschaftliche Methoden, um unter verschiedenen Ansätzen der Armutsbekämpfung den effektivsten zu auszumachen. Sie funktionieren wie der Wirkungsnachweis eines Medikaments: Forscher teilen die Bevölkerung nach dem Zufallsprinzip in verschiedene Gruppen. Den einen wird auf die eine, den anderen auf eine andere Weise, dritten nur scheinbar geholfen. Am Ende vergleicht man den Effekt.
Die Ergebnisse fallen oft überraschend aus. Wie etwa lässt sich mit minimalem Aufwand erreichen, dass möglichst viele afrikanische Kinder die Schule besuchen? Wissenschaftler des Bostoner Massachusettes Insitutes of Technology nahmen sich 75 Schulen in Westkenia vor. An einigen gab es zusätzliche Lehrer, an anderen eine Gratismahlzeit oder Stipendien. All das brachte einen gewissen Erfolg. Doch die weitaus meisten Schüler nahmen regelmäßig am Unterricht teil, wenn sie Kautabletten gegen Darmwürmer erhielten. Diese Parasiten nämlich machen die Kinder anfällig für andere Krankheiten und lethargisch. Die Abhilfe kostet pro Schüler und Jahr gerade einmal 50 Cent.
Wie bewegt man Mütter in Nordindien dazu, ihre Kinder impfen zu lassen? Man sorgt für regelmäßige Öffnungszeiten der Impfstation und belohnt die Besucher mit einem kleinen Sack Linsen. Wie steigert man am wirkungsvollsten die Leistungen indischer Schüler? Man leiht einem älteren Kind eine billige Digitalkamera, lässt es täglich bei Schulbeginn und Schulende ein Foto aller Lehrer schießen und gewöhnt diesen damit das Blaumachen ab.
So viel lässt sich mit geringen Mitteln bewirken, wenn sie mit Fantasie und Verstand eingesetzt werden. Und so einsichtig kann es werden, dass wir einem Menschen in Afrika genauso wirkungsvoll helfen können wie einem Kind vor unseren Augen.
Es ist höchste Zeit, mehr Hilfsmaßnahmen nach diesem Muster zu überprüfen und Erfolge sowie Misserfolge ehrlich zu dokumentieren. Natürlich liegt es an den Spendern, diese Informationen dann auch zur Kenntnis zu nehmen. Es dauert nur Minuten, im Netz nachzuforschen, was mit einer Spende geschieht. Organisationen, die diese Informationen verheimlichen, haben unser Geld nicht verdient.
Wer gibt, tut zwar immer etwas Gutes. Doch sollte ihm daran gelegen sein, mit seinen Mitteln nicht nur etwas, sondern möglichst viel zu bewirken. Vor Weihnachten schnell eine Überweisung auszufüllen, mag kurzfristig das Gewissen beruhigen und ein gutes Gefühl verschaffen. Auf Dauer befriedigender ist es jedoch, nicht nur von Herzen, sondern auch mit Hirn zu spenden.
erschienen in Süddeutsche Zeitung, 18. Dezember 2010