Keiner denkt für sich allein

In: ZEITmagazin 10/21

Geistesblitze verändern unser Leben und manchmal die Welt.

Wir verdanken ihnen den am häufigsten gespielten Popsong aller Zeiten und die Relativitätstheorie. Paul McCartney berichtet, dass er an einem Morgen im Jahr 1964 im Traum zum ersten Mal die Melodie von „Yesterday“ hörte; ein Streichorchester spielte den Song. Noch im Halbschlaf notierte er die Melodie, aus der die Beatles ihr erfolgreichste Lied komponierten. Albert Einstein ereilte der entscheidende Gedanke, wie aus dem Nichts kommend, im Gespräch mit mit einem Freund. Seit Jahren hatte er damals, im Frühjahr 1905, mit bestimmten Widersprüchen in der Physik der Lichtausbreitung gerungen, die Schwierigkeiten erschienen unüberwindlich. Als er den nichts ahnenden Freund am Tag darauf wieder sah, begrüßte Einstein ihn so: „Danke. Ich habe das Problem vollständig gelöst.“ Er hatte plötzlich verstanden, dass keine absolute Zeit existiert. Fünf Wochen später veröffentlichte Einstein die Grundlagen einer neuen Weltsicht.In glücklichen Momenten kann  menschliche Geist sich selbst übertreffen. Deswegen, und weil gute Ideen uns fast immer dann überkommen, wenn wir am wenigsten mit ihnen rechnen, erscheint uns unser eigenes schöpferisches Denken seit jeher geheimnisvoll. Obwohl schon die antiken Philosophen darüber nachdachten, hatte die menschliche Fähigkeit, Einfälle hervorzubringen und umzusetzen, die längste Zeit noch nicht einmal einen Namen. Ein eigenes Wort dafür fand erst vor 150 Jahren in unsere Sprache. Und ebenso lange blieb ungeklärt, was „Kreativität“ – das Vermögen, Neues und Wertvolles zu schaffen – eigentlich ausmacht.
   Erst jetzt decken Hirnforschung und Kognitionswissenschaft auf, welchen Vorgängen wir unsere Einfälle verdanken. Neue archäologische Funde von den den Anfängen des Werkzeuggebrauchs und der Kunst zeigen, wie der Mensch zur einmaligen Gabe der schöpferischen Intelligenz kam, mit der er sein eigenes Schicksal zu lenken und die Welt nach seinen Vorstellungen zu verändern begann. Die Entwicklung der künstlichen Intelligenz erlaubt es heute, Prozesse des schöpferischen Denkens nachzuvollziehen –  und wirft die Frage auf, wie lange dem Homo Sapiens das Privileg, durch Kreativität auf die Welt einzuwirken, noch allein vorbehalten sein wird.  
  Jedes Aha-Erlebnis ist ein Moment überschwänglicher Freude.  Widerstände, gegen die man lange vergebens anrannte, sind plötzlich verschwunden. Mit einem Mal lässt sich das Undenkbare denken. Mitunter fühlt man sich wie unter dem Bann einer höheren Macht. Nur durch ein Wunder scheint der geistige Durchbruch erklärbar. Ist es also  erstaunlich, dass die Menschen bis weit in die Neuzeit hinein Einfälle als göttliche Eingebungen ansahen?

  Weniger mystisch klingt eine Erklärung, die im 18. Jahrhundert aufkam und uns bis heute beeinflusst – und behindert. Dichter und Denker begannen vom „Originalgenie“ zu raunen, also dem Ideal eines Menschen, der mit seinen Ideen die Welt aus den Angeln hebt. Ein Talent der Intuition, mit dem nur die wenigsten begabt seien, sollte das Genie hierzu befähigen. Worin genau diese Gabe bestehen und welchen Personen sie aus welchen Gründen beschert sein sollte, blieb offen.
Das Wort „Originalgenie“ ist vergessen. Doch die Vorstellung davon ist Allgemeingut geworden. Man hat sich an die Heldenerzählung vom auserwählten Individuum gewöhnt, das aufgrund unerklärlicher Gaben sehen kann, wofür andere blind sind. Schon als Schulkinder lernten wir große Ideen mit den Namen ihrer – oft bloß vermeintlichen – Urheber zu verbinden. Bei Geometrie kommt einem sofort der Pythagoras in den Sinn. Isaac Newton habe die Schwerkraft entdeckt, Einstein, der Einzelgänger, die neue Physik. So huldigen wir einzelnen Genies für die Erfolge ganzer Epochen. Heute glaubt man zu wissen, dass das iPhone das Werk eines Mannes namens Steve Jobs sei, und dass eine halbe Milliarde Leser den aus alte Mythen und Märchen zusammengerührten Kosmos der Harry-Potter-Romane einzig der Phantasie von Joanne K. Rowling verdankt  Der Glaube an gewaltige Ideen in besonderen Köpfen prägt das Bild der Geschichte und das Selbstbild eines jeden. Er lässt unzählige Menschen daran zweifeln, selbst zu schöpferischem Denken fähig zu sein. In Sachen Kreativität sind wir rettungslos ambivalent. Einerseits sehnen wir  uns nach dem Hochgefühl, das gute Ideen uns geben, wünschen wir uns die Chancen, die sie eröffnen. Weil die Wirtschaft weiß, dass sie von Ideen lebt, zahlen deutsche Unternehmen hunderte Millionen Euro im Jahr für oft fragwürdige Kreativitätsseminare. Und bestreitet noch jemand, dass die Menschheit eines neuen Denkens bedarf, um die Zukunft der Erde zu retten? Andererseits sehen wir noch immer Kreativität noch immer als ein Talent weniger Auserwählter angesehen. Durch Ehrfurcht gehemmt sind wir weniger einfallsreich, als wir sein könnten. Weil den  Den Preis des Genieglaubens zahlt also letztlich die ganze Gesellschaft. Deshalb ist er gefährlich.
Tatsächlich ist die Behauptung, Kreativität verlange ein spezielles Gehirn, ein Mythos. Um herauszufinden, wie es Albert Einstein möglich war, ein neues Weltbild zu schaffen, wurde ihm sieben Stunden nach seinem Tod am 18. April 1955 der Schädel geöffnet. Ein Anatom entnahm das Gehirn, fotografierte, konservierte und zerschnitt es in 240 Blöcke, die man für weitere Studien in Kunstharz eingoss. Man zählte die Neuronen, studierte die Nervenbahnen, welche die Hirnhemisphären verbinden, zeichnete den Verlauf der Furchen in der Hirnrinde nach. Keine dieser Untersuchungen lieferte ein Ergebnis, das auf außergewöhnliche Produktivität hindeutete.
Es war weder die erste noch die einzige Vermessung eines als genial angesehenen Kopfes. Bereits nach dem Tod des überragenden Mathematikers Carl Friedrich Gauß im Jahr 1855 hatte ein ehrgeiziger Anatom dessen Gehirn konserviert. Als eine Wissenschaftlerin eines Göttinger Max-Planck-Instituts 2013 das Präparat noch einmal mit modernen Methoden studierte, stellte sie „keine anatomische Auffälligkeit“ fest. Ebenfalls unter das Mikroskop gelegt wurde Lenins Gehirn – die Einzelheiten behielten die sowjetischen Forscher wohl aus guten Gründen für sich.
Warum die Suche nach besonderen Strukturen in den Köpfen von so genannten Genies scheitern musste, hat die Forschung der letzten Jahre gezeigt. Die wahren Wurzeln der Kreativität sind unendlich viel interessanter, als der Geniekult uns glauben macht: Schöpferisches Denken folgt nicht aus einer speziellen Fähigkeit, sondern ergibt sich aus elementaren Funktionen des Verstands, über die jeder Mensch verfügt. Denn das Gehirn ist eine Prognosemaschine – ohne dass wir irgendetwas dafür tun müssten, trifft es fortwährend Annahmen auf Grundlage dessen, was wir schon kennen. „Erinnerungen an die Zukunft“ nannte der schwedische Neurowissenschaftler David Ingvar diese Vorstellungen  möglicher Welten, die das Baumaterial unserer Einfälle sind.
 Schöpferische Menschen brauchen daher keine übermenschlichen Geistesgaben. Sie wissen nur das Baumaterial, über das alle verfügen, besser zu nutzen. (Charles Darwin, der mit seiner Evolutionstheorie die ganze Vielfalt der Natur erklärte und die Sicht auf das Leben für immer verwandelte, stapelte keineswegs tief, als er bekannte, seine Lehrer und Eltern hätten ihn als „einen ganz gewöhnlichen Jungen, eher von etwas unterdurchschnittlichem Intellekt“ angesehen.)
In den letzten Jahren hat sich erwiesen, dass kreatives Denken mit bestimmten Bewusstseinszuständen verbunden ist, zwischen denen der Geist hin und her schwingt wie ein Pendel. Einer dieser Zustände ergibt sich aus einem besonderen Betriebsmodus des Gehirns, den die Neurowissenschaftler erst vor kurzem nachweisen konnten. Dabei wird die Wahrnehmung der Außenwelt herunter gedimmt, obwohl wir hellwach sind; die Aufmerksamkeit wendet sich einer Innenwelt von Erinnerungen, Gedankenfetzen und Vorstellungen zu. Auf logische Schlüssigkeit kommt es in diesem Modus nicht an. Der Verstand richtet sich nicht auf ein bestimmtes Ziel, er mäandert, erleuchtet, einem weit aufgeblendeten Scheinwerfer gleich, eine weite geistige Landschaft, hebt aber keinen Gegenstand besonders hervor. Vor dem inneren Auge entstehen Bilder möglicher Welten. In diesem Zustand stellt der Verstand neue Verknüpfungen her.
Und doch ist Kreativität mehr als eine Frage der Intuition. Längst nicht jede Phantasie erweist sich als wirklichkeitstauglich. Wie das Pferd auf der Rennbahn einen Reiter braucht, so braucht die  Innenschau für den schöpferischen Prozess einen entgegengesetzten, lenkenden Zustand – das nach außen gerichtete, kritische Denken. Nur gemeinsam gelangen beide ins Ziel. Ein Verstand, der nicht träumen kann, ist langsam und kraftlos. Ein Geist aber, der vor Logik zurückschreckt, irrt umher und scheut. Kreativität ist also kein isoliertes Talent –  sondern vielmehr die Kunst, Gegensätze in einem Kopf zu vereinen. Ideen entstehen, wenn es der Logik gelingt, die Träume zu reiten.
Die Kunst, zwischen den beiden Zuständen zu pendeln, lässt sich trainieren. Umgekehrt kann man die eigene Empfänglichkeit für Ideen blockieren, etwa durch die pausenlose Beschäftigung mit unerheblichen Reizen. Wäre Archimedes je „Heureka“ rufend durch Syrakus gelaufen, hätte er seine Zeit statt in der Badewanne auf Facebook verbracht?
 Und noch ein Irrtum liegt dem Geniekult zugrunde: Es kommt  längst nicht nur auf die Vorgänge im Kopf eines Einzelnen an. Schöpferisches Denken braut sich weniger hinter verschlossenen Türen zusammen, es entsteht vielmehr in der fruchtbaren Auseinandersetzung mit der Umwelt. Nur in einer romantischen Vorstellung schöpfen Genies große Ideen allein aus sich selbst. Welche Früchte der Verstand trägt, hängt aber in Wirklichkeit nicht so sehr von persönlichen Anlagen ab als davon, in welchem Ausmaß und Intensität wir uns mit anderen auszutauschen vermögen. Kreativität ist kein individuelles Talent, sie entfaltet sich zwischen Menschen.
Nicht zufällig fand Albert Einstein den Schlüssel zur Relativitätstheorie im Gespräch mit seinem Freund Besso. Überhaupt war der junge Einstein keineswegs der Eigenbrötler, als der er oft dargestellt wird. In regelmäßigen Runden mit Freunden – „Akademie Olympia“ nannte sich die Runde – entwickelte er seine Ideen. Jede zum einsamen Menschheitsgenie verklärte Figur war tatsächlich in ein ganzes Geflecht von Weggefährten, Lehrern und Vorbildern eingewoben. Leonardo da Vinci wurde in der Werkstatt des Universalkünstlers und Ingenieurs Andrea del Verrochio (er bildete eine ganze Generation höchst erfolgreicher Männer aus) selbst zum universellen Künstler und Ingenieur. Wolfgang Amadeus Mozart reifte an der Seite einer Schwester – die ebenfalls eine außerordentliche Musikerin war, aber in seinem Schatten stand – zum Komponisten heran. Marie Curie forschte gemeinsam mit ihrem Ehemann Pierre, später mit ihrer Tochter Irène und deren Mann, was der Familie nicht weniger als sechs Nobelpreise eintrug. (Marie Curie bekam die Auszeichnung gleich zweimal.) Keiner denkt für sich allein.
  Der Grund, warum schöpferisches Denken sich nicht in einzelnen Hirnen, sondern im Zusammenleben vollzieht, liegt in der Natur der Kreativität selbst. Sie bestehe „schlicht darin, Dinge zu verbinden“, erklärte etwa Steve Jobs, der selbst nicht daran glaubte, jenes Originalgenie zu sein, für das man ihn hielt. Und gibt es ein besseres Beispiel für die umwälzende Kraft raffinierter Kombinationen als das iPhone? Kurz nach der Jahrtausendwende kam Jobs der Einfall, einen Zwitter zu schaffen aus Computern und den damals üblichen elektronischen Notizbüchern, auf deren Touchscreen man mit einem Griffel schrieb. Er fragte sich, ob man nicht einen dieser „Persönlichen Digitalen Assistenten“ mit einem vollwertigen Rechner verbinden und den Bildschirm obendrein auf Fingerdruck reagieren lassen könnte. Dann hätte man einen Computer zum Anfassen, der sich kaum mehr technisch anfühlen würde, sondern eher wie ein lebendiges Wesen.
Jobs setzte gut tausend Angestellte auf dieses Geheimprojekt an , doch als ihm die Ingenieure den ersten Prototyp präsentierten, fiel ihm eine weitere Kombination ein: Das Gerät könnte außerdem als Telefon dienen. Der Erfolg gab ihm recht: In der Nacht vor der Markteinführung des iPhones im Juni 2007 kampierten die Menschen in amerikanischen Metropolen auf der Straße, um als erste die neue Technik zu ergattern. Zehn Jahre später hatte Apple mehr als eine Milliarde iPhones verkauft.
Heute wissen wir, dass Jobs nur teilweise richtig lag. Nicht alle Kreativität erklärt sich aus geschickter Kombination, manche Formen schöpferischen Denkens funktionieren ganz anders. Die so genannte transformative Kreativität verändert die Konzepte die unserem Blick auf die Welt zugrunde liegen. Doch auch dabei entwickeln sich Ideen als Antworten auf Fragen, die andere oder das Leben selbst an uns stellen. Ohne diese Anregungen von außen wäre die stärkste Vorstellungskraft machtlos.
Um Antworten zu finden, benötigt der Verstand geistige Werkzeuge und geeignetes Material –  der beste Zimmermann kann ohne Holz und Säge keinen Dachstuhl errichten. Die Menge der geistigen Werkzeuge, das Material und die Konzepte, aus denen die Vorstellungskraft neue Einfälle formt, sind nicht im Kopf von Einzelnen, sondern im Gedächtnis einer ganzen Gemeinschaft gespeichert – im kollektiven Gehirn.
Und jede Kultur hat ihr eigenes kollektives Gehirn. Manche Kulturen kennen mehr Konzepte als andere, sie unterscheiden sich also darin, wie viele Ideen Menschen in ihnen hervorbringen können. Die Unterscheidung von rechts und links etwa, die Zahlen und die Abgrenzung der Farben erscheinen uns so selbstverständlich, dass wir sie für angeboren halten. Tatsächlich haben wir all diese Konzepte gelernt.
Viele Sprachen von Jägern und Sammlern kennen keine Zahlwörter größer als drei. Wer einer solchen Kultur angehört, ist unfähig, 28 von 29 zu unterscheiden. Wie sich das anfühlt, können wir nachvollziehen, wenn wir versuchen, Farbtöne auseinanderzuhalten, für die unsere Sprache nur einen Überbegriff kennt. Blau etwa gilt im Deutschen als eine einzige Farbe; das Russische dagegen kennt zwei völlig verschiedene Worte für Blau – eines bezeichnet die zarten Töne etwa des Himmels, ein anderes das Tiefblau des Meers. Wer in der russischen Sprache aufgewachsen ist, nimmt mühelos Schattierungen wahr, die deutschen Muttersprachlern als völlig identisch erscheinen. Sprachen wie das Walisische oder Tibetische hingegen bezeichnen die Farben des Himmels und des Grases mit einem einzigen Wort, gewissermaßen als „blün“.
So erzeugt das kollektive Gehirn einen Möglichkeitsraum – eine geistige Landschaft, in der sich der Verstand bewegt. Der Möglichkeitsraum enthält alles, was wir uns vorstellen können. Was außerhalb des Möglichkeitsraums liegt, ist dem alltäglichen Denken und damit auch der Wahrnehmung unzugänglich. Es fehlen die Konzepte und Regeln, um Hypothesen zu bilden. Schöpferisches Denken heißt, diesen Raum zu erweitern. Der menschliche Geist hat eine Geschichte, und wir können Kreativität nur aus dieser Geschichte verstehen.
Meistens dehnt sich der Möglichkeitsraum allmählich aus. Menschen äußern Ideen und erfinden Dinge, die andere zum Ausgangspunkt wieder neuer Einfälle machen: Schritt für Schritt reift das kollektive Gehirn, welches schöpferisches Denken ermöglicht. Der Aufstieg des Menschen stellt sich als „ständiges Wachsen und Erweitern der menschlichen Vorstellungskraft“ dar, wie der britische Mathematiker und Biologe Jacob Bronowski bemerkte.
Manchmal aber entstehen so grundlegend neue materielle oder geistige Werkzeuge, dass der Möglichkeitsraum gleichsam explodiert. Schlagartig vergrößert sich der Bereich dessen, was Menschen sich vorstellenund erreichen können. In solchen Perioden kommt es zu einer geistigen Revolution – das kollektive Gehirn wird umprogrammiert. Drei große derartige Zäsuren hat die Menschheit bisher durchlaufen.
Der erste Umbruch vollzog sich vor mehr als 3,3 Millionen Jahren, als frühen  lernten, wie man Steine zu Werkzeugen behaut, die ihren Körpern übermenschliche Kräfte verliehen. Weil sie für diese Arbeit neue Wege der Verständigung benötigten, entwickelte sich wohl schon in dieser ersten Wendezeit Sprache.
Im Zuge der zweiten Revolution entdeckte der Mensch das symbolische Denken. Aus ersten einfachen Zeichen, die unsere Ahnen vor mindestens 100.000 Jahren auf Muscheln und Felswände malten, entstanden Bilder, später Zahlen und Schrift, die immer abstraktere Vorstellungen erlaubten. Durch den Gebrauch von Symbolen potenzierte der Mensch die Möglichkeiten seines Gehirns.
Die dritte Revolution führte die Menschheit in ein Zeitalter, in dem sich Gehirne auf der ganzen Welt miteinander vernetzten. Mit der Druckerpresse, die der Goldschmied Johannes Gensfleisch, der sich Gutenberg nannte, um das Jahr 1450 in Mainz in Betrieb nahm, begann die Massenkommunikation. Innerhalb weniger Jahre strömten Millionen Blätter aus den Druckereien. Wissenschaft wurde eine Macht in der Welt, sie entfesselte die verborgenen Kräfte der Natur und verschafft Milliarden Menschen einen nie gekannten Lebensstandard.
Von ähnlicher Tragweite ist die vierte Revolution, die wir derzeit erleben. Ausgelöst wurde dieser Umbruch durch die Entwicklung von Computern, die dem menschlichen Verstand immer mehr Aufgaben abnehmen und ihrerseits zunehmend selbstständig lernen. Innerhalb kürzester Zeit wurden sie allgegenwärtig und die Menschen abhängig von ihnen. Seit dem Jahr 2010 ist Homo Sapiens in der Unterzahl gegenüber den von ihm selbst geschaffenen Maschinen im weltweiten Netz; aktuell entfallen auf jeden Bewohner der Erde sechs elektronische Rechner.
Seit den Anfängen der Computer warnen Futuristen die Menschheit vor dem Schicksal des Zauberlehrlings in Goethes Ballade. Sobald ein Rechner so leistungsfähig sei wie das Gehirn, könne eine Superintelligenz aufkommen, die nicht mehr menschlich wäre. Maschinen, die wir nicht mehr verstünden, träfen an unserer statt immer mehr Entscheidungen und übernähmen schließlich die Kontrolle über die Welt. Das schöpferische Denken der Menschen würde unerheblich, die Geschichte der Menschheit wäre beendet.
Lange erschien es nur als ferne, äußerst unsichere Möglichkeit, dass ein Computer einmal mit der Rechenleistung des menschlichen Gehirns gleichziehen könnte. Doch 2020 war es soweit. Im Mai, als die Corona-Pandemie alle Aufmerksamkeit auf sich zog, ging im japanische Kobe der Supercomputer Fugaku ans Netz. Ausdrücklich als Platform für sogenannte künstliche Intelligenz angelegt, ist Fugaku die erste Maschine, deren Leistungsfähigkeit die des Gehirns in jeder messbaren Kategorie übertrifft. Amerikanische und chinesische Computer mit noch stärkeren Prozessoren werden noch in diesem Jahr  folgen.
Macht künstliche Intelligenz uns überflüssig? Kein Zweifel kann daran bestehen, dass die digitale Welt heute schon unsere Art zu denken verwandelt. Digitale Fotografie schwächt die visuelle Erinnerung, Google Maps mindert nicht nur das Orientierungsvermögen, sondern auch das räumliche Denken der Menschen. Im Vertrauen darauf, dass Wissen jederzeit online abrufbar ist, trainieren die Menschen immer weniger ihr Langzeitgedächtnis. Der Glaube an die fertige Lösung für alle Probleme aus der Suchmaschine bewirkt, dass wir heute assoziativer und weniger analytisch denken als vor der Internetrevolution. Jeder dieser Effekte ist nachgewiesen, und jeder verändert, wie wir schöpferisch denken.
Einerseits verlieren wir geistige Fähigkeiten, weil wir immer mehr kognitive Aufgaben an Computer abgeben. Andererseits gewinnen wir neue Möglichkeiten hinzu. Wie die Sprache in der ersten und die Schrift in der zweiten geistigen Revolution den Aufstieg des Menschen beflügelte, so können klug eingesetzte Maschinen den Horizont unseres schöpferischen Denkens erweitern. Die phantastisch geschwungene Architektur eines Frank Gehry, elektronische Tanzmusik, Fotos von schwarzen Löchern, die Erfindung von Impfstoffen gegen eine Pandemie innerhalb weniger Monate – all das hätte es ohne Computer, die unsere Gehirne vernetzen und deren Leistung verstärken, niemals gegeben.
 Heute produziert die Menschheit um Größenordnungen mehr Ideen als in der Renaissance, die wir als goldene Ära des schöpferischen Denkens ansehen. Wir leben in einem neuen Möglichkeitsraum. Und dies ist erst der Vorgeschmack auf eine Zukunft, in der unser Denken stärker und stärker mit der Leistung künstlicher Intelligenz verwächst. Künftig werden Ideen in Symbiose von Mensch und Maschine entstehen.
Wird künstliche Intelligenz uns die geistigen Werkzeuge für noch ehrgeizigere Ziele verschaffen, oder macht sie uns zu Sklaven der Algorithmen? Unsere Freiheit werden wir  nur bewahren, wenn wir den Mut aufbringen, die in jedem Menschen und in jeder Gesellschaft schlummernden schöpferischen Potentiale zu wecken. Denn Kreativität lässt sich  entfesseln.