"Zeit ist knapper als Geld"

WELT: Sie haben den Interviewtermin auf exakt 9:15 Uhr angesetzt. Steckt da etwas dahinter? Soll ich mir die Zeit bewusster machen?

Klein: Nein, das ist nur zufällig. Ich habe gerade meine Tochter in die Kita gebracht.

 

Laut Umfragen fühlen sich die Menschen in Berlin im deutschlandweiten Vergleich am meisten gestresst. Woran liegt das?

Wie hoch ist die aktuelle Arbeitslosenquote in Berlin? Um die 18 Prozent, glaube ich. Nun, die Arbeitslosen sind ein wunderbares Beispiel für das, was ich in meinem Buch behaupte. Wir sind häufig nicht deswegen gestresst, weil wir keine Zeit haben. Sondern: Wir haben keine Zeit, weil wir gestresst sind. Wir wissen aus unzähligen Untersuchungen, dass Arbeitslosigkeit oder die Bedrohung, arbeitslos zu werden, enormen Stress bedeutet. Umgekehrt haben Arbeitslose viel mehr Zeit, als ihnen lieb ist. Objektiv. Das muss sich subjektiv aber überhaupt nicht so darstellen. Da gibt es Leute, die unter Zeitdruck und einer furchtbaren Überfüllung ihrer Tage leiden.

 

Woher kommt das?

Stress verändert die Weise, wie unser Gehirn funktioniert. Insbesondere stört es Zentren, die dafür sorgen, dass wir den Überblick behalten, dass wir uns zeitlich organisieren können. Plötzlich dauert alles zwei oder drei Mal so lang. Das Teuflische ist nur, wie sich dieses Gefühl, keine Zeit zu haben, bald eine eigene Wirklichkeit schafft. Es gibt da eine klassische Untersuchung zweier österreichischer Soziologen aus den dreißiger Jahren. In einem Städtchen namens Marienthal, das von einer fürchterlichen Arbeitslosigkeit betroffen war, brauchten die Leute plötzlich eine Stunde, um einen Liter Milch zu besorgen. Was ich damit sagen will: Unsere Empfindung, gestresst zu sein und unter Zeitdruck zu stehen, hatsehr viel wenigermit der objektiven Zahl der frei verfügbaren Stunden und Minuten zu tun, als wir denken.

 

Sie schreiben auch, dass der Stress für den modernen Menschen eigentlich ein nutzloses Überbleibsel der Evolution sei.

Klein: Natürlich: Die Stressreaktion soll uns schützen, wenn wir körperlich bedroht sind. Dieses Problem haben wir nicht mehr. Doch die Stressreaktion ist geblieben – wie der Blinddarm.

 

Unsere Vorfahren haben Zeit ganz anders empfunden?

Darüber kann man nur spekulieren. Sicher ist, dass es für unsere Vorfahren ein abstraktes Maß der Zeit überhaupt nicht gab. Für die war klar, dass Zeit immer an Ereignisse gebunden ist. „Morgen“ ist nicht acht Uhr, sondern die Zeit, wenn die Sonne aufgeht. „Mittag“ ist die Zeit, wenn die Tiere zur Tränke gebracht werden müssen. Diese Atomisierung der Zeit, diese unglaubliche Zertrümmerung in immer kleinere Einheiten, die wir versuchen, maximal aufzufüllen – das ist eine moderne Entwicklung. Unser heutiges Zeitgefühl ist im wesentlichen ein Produkt der kapitalistischen Gesellschaft. Wir sehen Zeit als eine Ware, die man kaufen oder verkaufen kann.

 

Sie sagen, dass wir eine neue „Zeit-Kultur“ brauchen. Warum?

Weil wir – wie Menschen es nie zuvor waren – einer riesigen Mengen an Reizen ausgesetzt sind. Wir wissen aus Untersuchungen, dass ganz normale Büroangestellte oft sich nicht mehr länger als drei Minuten auf eine Tätigkeit konzentrieren können. Das ist horrend! Die Folge ist letztlich, dass die überhaupt nichts mehr geschafft kriegen. Wir brauchen diese neue Kultur auch, weil wir mehr Möglichkeiten haben als jemals zuvor. Sie können, wenn Sie wollen, in drei Stunden in Spanien am Strand liegen. Diese Möglichkeiten bedeuten auch einen Verzicht. Bei steigendem Wohlstand sind wir immer nicht mehr durch einen Mangel an Geld, sondern durch einen Mangel an Zeit beschränkt. Das ist eine knappe Ressource in unserer Gesellschaft. Wir müssen neue Wege finden, damit umzugehen.

 

Welche?

Der Grundsatz für eine neue Kultur der Zeit sollte eine zentrale Erkenntnis sein, die die Neuropsychologie erst in den letzten Jahren gewonnen hat. Die Zeit, in der wir uns befinden und mit der wir unsere Tage strukturieren, hängt viel weniger von der Zeit der Uhren, der öffentlichen Zeit, ab, als wir glauben. Es gibt so etwas wie eine innere Zeit. Die entsteht in jedem Menschen. Das ist etwas Individuelles. Wir müssen uns bewusst machen, dass wir keinesfalls getrieben sind von einem äußeren Takt, der für alle gilt.

 

Sondern?

Ein Beispiel ist die Körperzeit. Wir wissen heute, dass es genetisch bedingt Morgen- und Abendmenschen gibt. Ich bin zum Beispiel ein Morgenmensch, meine Frau ist ein Abendmensch, da können Sie machen, was Sie wollen, das wird sich nicht ändern. Wenn Sie jetzt versuchen, einen Abendmenschen dazu zu bringen, in der Frühe leistungsfähig zu sein, dann werden Sie Schiffbruch erleiden. Unser Arbeitsleben würde sehr viel besser funktionieren, wenn man dem Einzelnen die Freiheit ließe, sich nach seinem inneren Rhythmus zu richten.

 

Späteres Aufstehen als Chance für die deutsche Wirtschaft?

Nicht nur. Nehmen wir mal die Schulen. Jugendliche sind fast alle Nachteulen. Was macht unsere Gesellschaft? Sie setzt diese Menschen, die morgens noch gar nicht leistungsfähig sein können, um acht Uhr in die Schule. Und dann wundert man sich, dass die mindestens bis zur großen Pause apathisch herumhängen! Man hat in den USA den Versuch gemacht, den Unterrichtsbeginn um eine Stunde nach hinten zu verschieben, auf neun Uhr. Und siehe da: die Leistungen verbesserten sich schlagartig.

 

Können wir unsere Uhren wegschmeißen?

Uhren sind im wesentlichen ein soziales Instrument. Wir überschätzen ihre Bedeutung bei weitem.

 

Haben wir kein Talent mehr für Müßiggang?

Ich glaube, dass unsere Kultur diese Fähigkeit nicht mehr besonders betont oder fördert. Wir sollten uns eine neue Kultur der Muße aneignen. Wir brauchen Rückzugsräume. Für viele Generationen der Europäer war das schlicht das Kaffeehaus. Oder die Gesellschaftsspiele. Bridge-Runden. Die Kunst der gepflegten Konversation. Und was machen wir? Wir trinken unseren Coffee to go. Wir sollten diese Zonen der Muße wieder entwickeln, um lebens- und leistungsfähig zu bleiben in einer Umgebung, die immer dichter wird.

 

Kann man das Zeitempfinden trainieren, so wie man in ein Fitnessstudio geht?

Ja. Das kann man.

 

Wie?

Eine ganz einfache Strategie ist Schulung der Aufmerksamkeit. Wenn Sie lernen, genau wahrzunehmen, was um Sie herum vorgeht, dann verändern Sie automatisch Ihr Zeiterleben. Weil die erlebte Zeit stark davon abhängt von der Menge an Informationen, die Sie bewusst aufnehmen.

 

Die beliebten Zeit-Management-Ratgeber…

… sind vollkommen nutzlos. Das sind Strohfeuer. Man fühlt sich ein paar Wochen lang gut, dann ist wieder alles wie vorher.

 

Führt ein Überschuss an freier Zeit dazu, dass man sich zu viele überflüssige Gedanken macht?

Wir haben nun mal sehr viele Möglichkeiten. Wenn Sie zwei Leute vergleichen, die über gleich viel freie Zeit verfügen, aber ein unterschiedliches Einkommen haben – wer wird eher das Gefühl haben, zu wenig Zeit zu haben: der Arme oder der Reiche? Der Reiche sieht sich stärker im Zeitstress, wie Untersuchungen zeigen. Der hat Angst, mehr zu verpassen. Eine Buchhalterin hat nicht die Sorge, wie sie in den nächsten zwei Wochen einen Besuch bei den Salzburger Festspielen, die Hochzeit eines Freundes in Kalifornien und die Renovierung des Schwimmbads in der Villa unterbringt. Eine erfolgreiche Unternehmerin mag dieses Problem durchaus haben.

 

Ihr erstes Buch, „Die Glücksformel“, ist ein Bestseller und wurde inzwischen in 24 Sprachen übersetzt. Wie erklären Sie sich Ihren Erfolg?

Ich habe versucht, mit der „Glücksformel“ einen neuen Zugang zu einem ganz alten Thema zu finden, das alle bewegt. Es gibt ein latent enormes Interesse an der Wissenschaft. Der Leser sah in dem Buch: Wissenschaft kann etwas mit mir zu tun haben. Das kann spannend und witzig erzählt sein, ohne dass dadurch die Glaubwürdigkeit verloren geht. Ich lege alle Quellen offen. Ich tue nicht so, als hätte ich ein Geheimwissen. Es musste mal jemand hingehen und dieses Fachwissen, das unglaublich verstreut ist, bündeln. Die Wissenschaftler sind derart spezialisiert, die sehen den Wald manchmal vor lauter Bäumen nicht. Ich habe versucht, die Zusammenhänge aufzuzeigen und ein Bild des Waldes zu malen.

 

Was ist eigentlich Ihr liebster Zeitvertreib?

Ich versuche, mir die Zeit gar nicht zu vertreiben! Ich versuche, sie auszukosten, zu genießen, zu nutzen, manchmal vielleicht auch, sie zu vergessen.

 

An welchem Berliner Ort kann man am besten die Zeit vergessen?

Die Voliere im Zoologischen Garten. Man kommt hinein und sieht erstmal nur Bäume. Und dann fängt man an, immer genauer wahrzunehmen. Man sieht: da ist ein Vogel und da auch. Oh, und der, der schaut ja ganz anders aus. Das fesselt die Sinne. Ich kann da eine Stunde zubringen, ohne es zu merken.

 

Erschienen in: Die Welt, 28.08.2006